Howto: 100° Berlin

Interview mit der 100° Festivalleiterin des HAU Silke zu Eschendorff

Letztes Jahr war sie noch Praktikantin beim HAU für 100° Berlin 2010, dieses Mal hat sie schon die Leitung übernommen: Silke zum Eschenhoff ist überall und das gleichzeitig. Alle wollen etwas und zwar sofort: Künstler, Caterer, Techniker, Reporter. Und jetzt auch noch wir. Einen Tag vor Eröffnung baten wir sie zum Interview.

Wie sieht deine Fieberkurve aus? Ist dir heiß?

Noch nicht, aber zum Wochenende hin wird sich das wohl ändern. Wird aber auch langsam Zeit, nach einem halben Jahr Planung und Vorbereitung.

Das 100° Berlin hat ein außergewöhnliches Konzept: es gibt keine inhaltlichen Vorgaben oder eine Vorauswahl der Produktionen. Wie organisiert man ein nicht kuratiertes Festival?

Der Ablauf ist schon vorstrukturiert: die ersten 120 Bewerber dürfen spielen. Es gibt etablierte Formate wie die Mitternachtsdiskussionen, die Parties und die 100Wort! Festivalzeitung. Also alles hauptsächlich ein großer Organisationsaufwand. Einen thematischen Schwerpunkt haben wir aber auch. Dieses Jahr z.B. weisen wir besonders auf Stücke hin, die sich mit dem Thema Spiel beschäftigen: wie die Produktionen Machina eX oder Invisible Playground.

Wie wurden die Rahmenprogrammpunkte ausgewählt?

Es gab die Idee von Installationen, die zum einen als verbindende Elemente zwischen den Spielstätten, zum anderen als Auflockerung des eng getakteten Programms dienen sollten. Ich nahm Kontakt zu verschiedenen Kunsthochschulen auf. Als die Studierenden der UdK um Olafur Eliasson sich als Erste positiv äußerten, waren wir natürlich erfreut. Nachdem sich die Studierenden die Räume angesehen hatten, bekamen wir immer mehr Anmeldungen. Darüber hinaus gibt es noch die durchgängigen Aktionen videoartCar von Jan Loh und loveline von White Horse und den 100° Shuttle Service mit verschiedenen Hörspielen.

Dieses Jahr sind 120 Produktionen zu sehen. Woher kommen die Bewerber?

Wir versuchen, die Ausschreibung so breit wie möglich zu streuen. Das geht über Ausbildungsstätten für Schauspiel und Regie bis hin zu Universitäten mit einem künstlerischen Schwerpunk. Dieses Jahr haben wir die absolute Höchstmarke mit über 300 Bewerbungen erreicht.

Wen wollt ihr mit dem 100° ansprechen und mit wie vielen Besuchern rechnet ihr ungefähr?

Schon junge Menschen, die aus der freien Theaterszene kommen, aber auch die, die sich einfach fürs Theater interessieren. Bei den Besucherzahlen können wir uns nur an denen der letzten Jahre orientieren, da waren es so zwischen 1000 bis 2000 pro Tag.

Welche Bedeutung hat das 100° für die freie Theaterszene?

Es soll der aktuelle Stand der freien Berliner Theaterszene gezeigt werden. Die Gruppen kommen sowohl von namhaften Ausbildungsstätten wie der Ernst Busch und der UdK, als auch aus völlig freien Theaterkollektiven aus Neukölln. Es gibt sowohl traditionell-konventionelles Theater, als auch Performer, die versuchen, völlig neue Wege zu gehen. Wir möchten eine vielschichtige Momentaufnahme der freien Theaterlandschaft zeigen und hoffen, dass hier junge Theatermacher zueinanderfinden, sich austauschen und vernetzen.

Sind Trends erkennbar, was die Wahl von Motiven und Themen angeht?

Erstaunlich finde ich dieses Jahr die Vielzahl an Produktionen, die sich in unterschiedlichsten Variationen mit dem Thema Identität auseinandersetzen: Wer bin ich? Wer ist der andere? Ob nun weibliche, männliche oder religiöse Identität, die Selbstfindung scheint eine große Rolle zu spielen. Es gibt auch relativ wenige plotlastige Stücke dieses Jahr. Man musste die Texte schon mehrmals lesen, um wirklich zu verstehen, was genau ver- oder behandelt wird.

Wird das Festival von einem Fachpublikum wahrgenommen?

Mittlerweile schon. Das 100° Festival bietet die Möglichkeit, viele junge Gruppen in kurzer Zeit kennen zu lernen. Für Veranstalter ist es ein Pool voller potenzieller neuer Talente. Viele tolle Kooperationen sind hieraus schon hervorgegangen.

Die systematische Überforderung des Publikums scheint fast zum Programm zu gehören. Kannst du für Unschlüssige trotzdem eine Orientierungshilfe geben?

Ich glaube, man muss auf Schatzsuche gehen oder sich einfach treiben und überraschen lassen. Zunächst kann man die Tagespläne nach Produktionen, die man kennt, durchforsten. Auf jeden Fall aber sollte man flexibel bleiben, denn während des Festivals kursieren die Geheimtipps, man muss nur hinhören.

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