Das Herz des HAU und die Seele der Saele

Ein Exkurs in die Vergangenheit der Spielstätten und wieso es die richtigen für das 100° sind

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Die Vergangenheit der beiden Theater des 100° eröffnet Kontexte, deren Karma auf das Konzept und die Atmosphäre des Stückmarathons abzufärben scheint. Leicht war es für beide Spielorte nicht. Trotz politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen, überlebten sie. Teils beruhte dies auf Fügung oder auf die geschickten Männer und Frauen, die sich der Räumlichkeiten seit ihrer Gründung annahmen.

Das Hebbel Theater ist spätestens seit 2003 bekannt, als es unter der Leitung von Matthias Lilienthal zum Theaterkombinat HAU –Hebbel am Ufer und zu einem der erfolgreichsten Theatern der Freien Szene wurde. Zu neuen Ufern aufbrechen, tat es bereits bei seiner Gründung. Als Privattheater 1907 von dem Theaterarchitekten Oskar Kaufmann erbaut, war damals bereits die Lage in der heutigen Stresemannstraße 29 ungewöhnlich, wo sich doch das kulturelle Zentrum Unter den Linden befand. Der ungarische Regisseur Eugen Robert leitete die Bühnen und es entstanden Pläne für ein modernes Sprechtheater. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten musste er jedoch das Theater nach knapp einem Jahr an die Direktoren Carl Meinhard und Rudolf Bernauer abgeben. Sie waren es, die moderne Stücke neben klassischen Stoffen beim Publikum beliebt machten. Namenhafte Regisseure, wie Paul Wegener oder Fritzi Massary, verhalfen dem Theater zu einer goldenen Zeit in den 20ern. Operetten, Lustspiele, Satiren und Komödien wurden dem Programm hinzugefügt. Multipliziert und alle Grenzen austestend bietet das HAU noch heute Vielfalt und Konzepte, die Konventionen brechen. Für das 100° ein idealer Nährboden.

Zeit der Umbrüche

1934 wurde das Haus von den Nationalsozialisten übernommen und gleichgeschaltet. 1945 war es eines der wenigen Theater, welches wieder seine Türen öffnen konnte – nur eine einzige Bombe hatte Teile des Foyers und des Vorderhauses getroffen. Brechts „Dreigroschenoper“ war das erste gezeigte Stück und sorgte für Erfolg und Diskussionen. Nach einer in den 50ern beginnenden Flaute, erblühte das Hebbel noch einmal kurz unter Rolf Külüs Leitung. Trotzdem meldete das Hebbel-Theater 1978 Konkurs an. Sechs Jahre zuvor, konnte nur der Denkmalschutz vor dem drohenden Abriss retten. Als Ausweichspielstätte von der Schaubühne genutzt, übernahm 1989 Nele Hertling die künstlerische Leitung und brachte das Gebäude der Öffentlichkeit wieder näher. Stetiger Erfolg konnte damals nur mit Gastspielgruppen erzielt werden, da das Hebbel damals noch nicht über eigene Ensembles verfügte. Dennoch wurde es Stück für Stück international bekannt und erlebte 2003 durch die Übernahme Lilienthals und dem Zusammenschluss mit dem Hebbel am Ufer und dem Theater am Halleschen Ufer seine Renaissance.

Reanimation der frenetischen Art, betreibt seit dem Gründungsjahr des HAU, das 100° Festival. Gleich zu Jahresbeginn werden die Bretter, die Welt bedeuten, bespielt, belebt und beseelt.

Mit der neuen Intendantin, der Niederländerin Annemie Vanackere, beginnt ab November 2012 eine aufregende Phase mit neuen Künstlern und dem Versuch Qualität in unserem schnelllebigen Zeitalter zu bewahren. Ob und wie sich das auf das 100º auswirken wird, das von rasendem Tempo und unterschiedlich starken Stücken bestimmt ist, wird sich dieses Jahr zeigen.

Von Projektbühnen und Traumtänzern

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Einige Jahre zuvor, 1996, wurde im Zentrum in der Sophienstraße 18, die Sophiensaele – mit neuer Schreibweise, die Räumlichkeiten als auch auf die Seele der Straße anspielte – von Sascha Waltz, Jochen Sandig, Jo Fabian und Dirk Cieslak gegründet. „Allee der Kosmonauten“ von Sascha Waltz and Guests bildete den Auftakt einer der wichtigsten Orte für die Freie Theaterszene. Nach dem Wechsel des Teams an die Schaubühne, übernahm Amelie Deuflhard die Leitung, nach ihr Heike Albrecht. Auf dem Posten hielt sie sich drei Jahre lang und gab 2010 an Franziska Werner, Ilka Seifer und Betinna Sluzalek ab. Heute ist Franziska Werner der Fels der Brandung geblieben. Die Sophiensaele stellen Fragen, erarbeiten sich Antworten, fördern und sind gastfreundlich. Aus aller Welt werden Künstler geladen um ihre Werke zu entwickeln und zu präsentieren. Durch gute Vernetzung entsteht ein dicht gewebter Teppich an Möglichkeiten und an realistischer Finanzierung. Es ist ein Ort an dem Geburten vollzogen werden, getauft wird, Namen gefunden werden. Rund 60 Produktionen und mehrere Festivals laufen Jahr für Jahr an. Das 100° ist nur eines der Kinder und half vielen dabei, ihr Talent zu entwickeln, die Türen zu öffnen und bekannt zu werden.

Hang zum Bündeln, Organisieren und Erneuern lässt sich in der frühen Geschichte des Hauses erkennen. Erbaut wurde es auf dem vom Handwerkerverein erworbenen Grundstück von den Architekten Joseph Fraenkel und Theodor Kampfmeyer. Politisch wurde es dort mit den Versammlungen der Berliner Arbeiterbewegung nach 1918. Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck, Clara Zetkin und Erich Mühsam sprachen von neuen Möglichkeiten und nahenden Umbrüchen. Auch der proletarisch-revolutionäre Schriftstellerbund fand hier 1928 seinen Anfang. Während der NS-Zeit wurde der Verein verboten und das Gebäude als Arbeitslager benutzt. Erst in der DDR zog das Maxim-Gorki-Theater ein und nutzte die Räumlichkeiten als Werkstätten – ein Charakterzug, den man bis heute noch im Konzept der Saele verankert finden kann. Einige Jahre stand das Gebäude nach der Wende leer und wurde dann mit einem vom Senat bewilligtem Nutzungskonzept an die vier Künstler übergeben, die das Haus aus der Asche hoben.

Wie ein Phönix erhellen die Scheinwerfer der sechs bespielten Räume der Sophiensaele das 100° Festival nun jährlich ganze vier Tage lang. Der offene und flexible Zug von früher ist immer noch gegenwärtig, vor allem im 100°. Tanz, Musik, Performance, Diskurse, alles wird geboten und endet manchmal in chronischer Überforderung der Zuschauer. Sie gehen, oder hechten im Stundentakt von Stück zu Stück. Nicht kuratiert und offen für jedes Genre, wird jeder gezeigt, der sich schnell genug anmeldet. Wären da nicht die Mitternachtssprecher, die Abend für Abend einen Ausblick in das Gezeigte geben und rote Fäden zu finden versuchen, wird das Gebotene entweder wohliges Sich-treiben-und-Überraschen-lassen oder zu einer ziellosen Suche nach Sinn. Insgesamt werden fünf Jury- und zwei Publikumspreise verliehen. Die Dotierung kommt in Form einer Flasche Wodka für jede der Gewinnergruppen. Keine Gagen, dafür aber ein materieller Ausblick auf die metaphorische Trunkenheit der Kunst. Im Kritikfeuer wegen Ausbeutung der Theaterschaffenden steht das 100° nicht mehr so stark wie einst, denn es bleibt eine Plattform für angehende Talente. Es bietet die Möglichkeit der Vernetzung – Überleben und Auffallen in einer sonst geschlossenen und fast hermetisch abgeriegelten Szene.

Das HAU und die Sophiensaele sind beide nach außen geöffnet – zur Stadt und für die Stadt offen. Es werden Stücke gezeigt, die nicht nur den kulturell-demographischen Wechsel aufgreifen, sondern auch Stücke, denen es an Vermischung der Genres nicht fehlt. Es wird reflektiert, gemeinsam geschaffen und eingeladen, was Substanz, Eindruck, Herz und Nachhaltigkeit hat.

Das 100º ist ein Bündel der Luft, die die beiden Spielstätten atmen. Es ist ein Experiment. Es ist ein kreatives Feuerwerk. Es ist das Kind des gemeinsamen Wunsches noch weiter und höher und vor allem freier zu fliegen und dem Theater tatsächlich alle Tore, Flure, Gänge, Treppenhäuser und Räume zu öffnen.

Text: Anna Lazarescu